Wenn die Psyche auseinanderfällt

Dissoziative Störung: Ursachen, Symptome und Therapie

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Dissoziative Störung ist der Oberbegriff für eine Reihe psychischer Erkrankungen, die meist mit traumatischen Erfahrungen oder starken psychischen Belastungen zusammenhängen. Die Betroffenen verlieren die Fähigkeit, Wahrnehmungen zu einem normalen, umfänglichen Erleben zusammenzufügen – das äußert sich zum Beispiel in Gedächtnisverlust, Bewegungs- oder Identitätsstörungen. Wie die Dissoziation sich zeigt und was dagegen hilft.

Frühzeitig begonnen, kann eine Psychotherapie sich sehr günstig auf den Verlauf einer dissoziativen Störung auswirken.
© iStock.com/KatarzynaBialasiewicz

Dissoziative Störungen sind gekennzeichnet durch Ausfallerscheinungen der Wahrnehmung, des Gedächtnisses oder körperlicher Funktionen sowie durch Störungen des Identitätsbewusstseins. Sie treten selten als Einzelstörung auf, sondern oft im Zusammenhang mit weiteren psychischen Störungen wie Angst, Depression, Schizophrenie oder dem Borderline-Syndrom. Schätzungsweise 1,4 bis 4,6 Prozent der Bevölkerung sind davon betroffen, Frauen dreimal häufiger als Männer. Beim erstmaligen Auftreten sind die Betroffenen meist unter 30 Jahre alt.

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Formen und Symptome der dissoziativen Störung

Bei einer dissoziativen Störung kommt es zu einer teilweisen oder vollständigen Trennung (lateinisch: dissociatio) von normalerweise zusammenhängenden psychischen Fähigkeiten. Der Begriff "Dissoziative Störung" wird als Oberbegriff für verschiedene Krankheitsbilder verwendet, die isoliert oder kombiniert vorkommen. Trotz ihrer großen Unterschiedlichkeit ist allen dissoziativen Phänomenen gemein, dass sie von den Betroffenen als unangenehm und beunruhigend empfunden werden – oft einhergehend mit der Angst, „verrückt zu werden“ oder dafür gehalten zu werden. Sämtliche Symptome können zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich stark auftreten und einander abwechseln, oftmals werden sie durch belastende Situationen verstärkt.

Dissoziative Amnesie

Bei einer dissoziativen Amnesie fehlt dem Betroffenen ganz oder teilweise die Erinnerung an wichtige, aktuelle Ereignisse – meist an belastende oder traumatische Ereignisse wie einen Autounfall oder einen Überfall. Die Erinnerungslücke geht dabei über eine normale Vergesslichkeit hinaus: Sie ist stärker ausgeprägt oder dauert länger an.

Dissoziative Fugue

Bei einer dissoziativen Fugue (Flucht) verlässt der Betroffene unerwartet seine häusliche Umgebung oder seinen Arbeitsplatz und begibt sich an einen anderen Ort. Der Fugue-Zustand kann von einigen Stunden bis zu mehreren Monaten lang anhalten. Dabei wirkt der Betroffene nach außen hin normal und kann sich weiter selbst versorgen. Während der Fugue kann er sich meist nicht an seine tatsächliche Identität erinnern, nach der Fugue nicht an die Ereignisse während der Flucht.

Dissoziativer Stupor

Beim dissoziativen Stupor sind die willkürlichen Bewegungen, die Sprache und die normalen Reaktionen auf äußere Reize deutlich vermindert oder fehlen ganz. Die Betroffenen sind vollkommen erstarrt, sprechen nicht, reagieren nicht auf Ansprache und essen und trinken nicht. Gleichzeitig atmen sie jedoch normal, haben eine normale Muskelspannung und können eine aufrechte Körperhaltung einnehmen.

Dissoziative Trance

Bei einem dissoziativen Trance-Zustand verlieren Betroffene das Gefühl für ihre eigene Identität. Gleichzeitig ist ihre Wahrnehmung auf die unmittelbare Umgebung eingeschränkt, es werden immer wieder dieselben Bewegungen und Sätze wiederholt. Mitunter verhalten Betroffene sich so, als seien sie "besessen" oder als würde eine höhere Macht sie kontrollieren.

Dissoziative Bewegungsstörungen

Bei dieser Störung kommt es zu einer teilweisen oder vollständigen Lähmung von Körperteilen, der Unfähigkeit zu koordinierten Bewegungen und/oder dem Verlust der Sprechfähigkeit. Zittern, Verkrampfungen, Muskelzucken und Gangstörungen treten ohne jede nachweisbare organische Ursache auf.

Dissoziative Krampfanfälle

Hierbei handelt es sich um plötzliche krampfartige Bewegungen, die an einen epileptischen Anfall erinnern. Ein Bewusstseinsverlust ist jedoch nicht zu beobachten, im EEG zeigt sich kein Befund.

Dissoziative Sensibilitätsstörung

Bei diesem Störungsbild gehen die sensorischen Empfindungen ganz oder teilweise verloren, ohne dass ein neurologischer Befund dazu vorliegt. Typisch sind eine Beeinträchtigung der Hautsensibilität oder Störungen des Seh- und Hörvermögens oder des Geruchssinns.

Depersonalisation/Derealisation

Von „Depersonalisation“ ist die Rede, wenn das eigene Selbst als verändert, entfremdet und unwirklich wahrgenommen wird. Betroffene empfinden keine emotionalen Reaktionen, das eigene Tun erscheint automatenhaft. Gleichzeitig reagieren sie aber normal und angemessen auf ihre Umwelt.

Bei der „Derealisation“ hingegen wird die Umwelt als unwirklich und fremd wahrgenommen. So kann eine bisher bekannte Umgebung dem Betroffenen beispielsweise plötzlich eigenartig unbekannt oder eine unbekannten Umgebung seltsam bekannt („Deja-vu“) vorkommen.

Ganser-Syndrom

Bei dieser seltenen Störung reden beziehungsweise antworten die Betroffenen am Inhalt des Gesprächs vorbei. Dies betrifft auch einfachste Fragen wie "Was ist 2 plus 2?", weshalb die Störung auch als Pseudodemenz oder Pseudodebilität bezeichnet wird. Sie tritt häufig bei jüngeren bis mittelalten männlichen Patienten und oft im forensi­schen Um­feld auf ("Ge­fäng­nis­psychose").

Dissoziative Identitätsstörung

Die schwerste Form einer dissoziativen Störung ist die Dissoziative Identitätsstörung, die früher auch als "Multiple Persönlichkeitsstörung" bezeichnet wurde. Dabei finden sich innerhalb einer Person mindestens zwei klar voneinander abgrenzbare Persönlichkeiten, die abwechselnd die Kontrolle über das Verhalten des Betroffenen übernehmen. Das Handeln der jeweils anderen Teil-Persönlichkeiten wird entweder gar nicht oder nur schemenhaft erinnert.

Ursachen einer dissoziativen Störung

In 90 Prozent der Fälle geht einer dissoziativen Störung eine traumatische Erfahrung voraus. Fachleute gehen davon aus, dass sie ein Schutzmechanismus ist, der die Psyche vor unerträglichen Belastungen schützt. Durch die vermehrte Ausschüttung des Stresshormons Cortisol wird die Fähigkeit zum Abspeichern und Abrufen von Erinnerungen beeinträchtigt, unerträgliche Erlebnisse werden aus dem Bewusstsein verdrängt. Ist der Betroffene wiederholtem Stress ausgesetzt, etabliert sich nach und nach ein Mechanismus, der automatisch abläuft und nicht mehr auf konkrete Belastungen als Auslöser angewiesen ist.

Da jedoch nur zehn Prozent der Menschen, die ein Trauma erlebt haben, eine dissoziative Störung entwickeln, geht man davon aus, dass auch individuelle Eigenschaften die Wahrscheinlichkeit für dissoziative Symptome erhöhen. Traumatische Erfahrungen in der Kindheit scheinen das Risiko zu erhöhen, nach einem erneuten Trauma eine dissoziative Störung zu entwickeln. Zudem scheint es eine genetische Disposition für dissoziative Störungen zu geben, und auch Menschen, die besonders suggestibel oder besonders gut hypnotisierbar sind, scheinen eine stärkere Neigung zur Dissoziation zu  haben.

Diagnose: So wird eine dissoziative Störung festgestellt

Dissoziative Störungen werden häufig nicht erkannt oder falsch diagnostiziert. Das liegt einerseits daran, dass die Symptome oft mit neurologischen Erkrankungen oder einer Borderline-Störung in Zusammenhang gebracht werden. Zum anderen liegen oft weitere psychische Erkrankungen vor, welche die dissoziativen Symptome scheinbar erklären.

Erstes Indiz für das Vorliegen einer dissoziativen Störung sind oft die Erzählungen des Betroffenen oder seiner Angehörigen. Typisch sind Schilderungen von Gedächtnislücken oder Situationen, in denen der Betroffene sich an einem fremden Ort wiederfindet, ohne zu wissen, wie er dorthin gekommen ist. Manchmal fällt dem Arzt oder Therapeuten auf, dass der Betroffene immer wieder den Faden verliert oder dass sein Verhalten sich plötzlich und auffällig verändert. Im Gespräch versucht er herauszufinden, ob es in der Vergangenheit ein Trauma oder eine schwere psychische Belastung gegeben hat. Zur strukturierten Erfassung der Symptome werden oft standardisierte Fragebögen als Test verwendet.

Vor dem Beginn einer Therapie müssen organische Untersuchungen als Ursache für die Beschwerden ausgeschlossen werden. Deshalb werden die Reflexe, die Seh-, Geruchs- und Geschmacksnerven und die Bewegungsabläufe untersucht, um einen Gehirntumor, eine Epilepsie, eine Migräne oder andere Erkrankungen des Gehirns auszuschließen. In manchen Fällen wird auch eine Computertomografie des Gehirns erstellt.

Therapie: Wie behandelt man dissoziative Störungen?

In der Regel werden dissoziative Störung mit einer Psychotherapie und nicht mit Medikamenten behandelt. Manchmal ist der Betroffene erst therapiefähig, wenn die Symptome verringert sind – in diesem Fall kommen zunächst Medikamente, Bewegungs-, Kunst- und/oder Musiktherapie zum Einsatz. Die Psychotherapie selbst verläuft üblicherweise in zwei Phasen:

  1. In der Stabilisierungsphase wird der Betroffene zunächst ausführlich über das Krankheitsbild informiert. Nach und nach baut der Therapeut eine Vertrauensbeziehung zum Betroffenen auf und hilft ihm bei der emotionalen Stabilisierung. Erst wenn der Betroffene sich sicher fühlt und Methoden zur Stressbewältigung und Symptomkontrolle erlernt hat, können die eigentlichen Krankheitsursachen angegangen werden.

  2. In der Expositionsphase werden dann mögliche Traumata explizit bearbeitet. Mithilfe verschiedener, schonender Methoden wird der Betroffene wieder an die traumatische Erfahrung herangeführt, sodass die bisher abgetrennten Erfahrungen wieder in die übrigen Lebenserinnerungen integriert werden können und eine Rückkehr in einen normalen Alltag möglich wird.

Dissoziative Störung: Krankheitsverlauf und Prognose

Die meisten dissoziativen Störungen erstrecken sich über einen Zeitraum von nur einigen Wochen oder Monaten und gehen dann spontan wieder zurück. In einigen Fällen entwickeln sich jedoch chronische Verläufe. Je früher die dissoziative Störung behandelt wird, desto besser ist ihre Prognose.

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