Legasthenie: Schwäche beim Lesen und Schreiben
Legasthenie ist eine Entwicklungsstörung, bei der Kinder große Probleme haben, das Lesen und Schreiben zu erlernen. Geschriebenes können sie schlecht enträtseln und umgekehrt Gesprochenes schwer niederschreiben. Die Lese- und Rechtschreibstörung (LRS) betrifft Jungen etwa dreimal häufiger als Mädchen.
Legasthenie ist eine Entwicklungsstörung, bei der Kinder Schwierigkeiten haben, das Lesen und/oder Schreiben zu erlernen. Fachleute sprechen auch von Lese- und Rechtschreibschwäche, Lese-Rechtschreibstörung oder kurz LRS. Der Begriff Legasthenie leitet sich vom lateinischen Wort "legere" für "lesen" und dem altgriechischen Wort für "Schwäche" ab. Zunächst beschreibt der Name also nur die Leseschwäche. Meist wird die Legasthenie aber als Synonym für eine Lese- und Rechtschreibstörung verwendet.
Bei Legasthenie tanzen oder verstecken sich Buchstaben
Manche Kinder haben nur Probleme mit dem Lesen, andere nur mit dem Schreiben, am häufigsten sind aber beide Bereiche beeinträchtigt. Die Teilleistungsstörung bedeutet, dass Kinder Geschriebenes schlecht lesen und das gesprochene Wort schwer niederschreiben können. Betroffene beschreiben ihren Alltag mit der Legasthenie so: "Es ist, als ob beim Lesen die Buchstaben vor dem Auge zu tanzen beginnen. Und wenn das gesprochene Wort aufs Blatt gebracht werden soll, dann verstecken sich die Buchstaben vor dem inneren Auge." Die Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und Schreiben treten auf, obwohl die Kinder die Sprache beherrschen und regelmäßig einen Kindergarten oder die Schule besuchen.
Wie häufig ist die Lese- und Rechtschreibschwäche?
Legasthenie ist eine relativ häufige Entwicklungsstörung bei Kindern. Etwa fünf Prozent der Grundschüler haben Probleme, die gesprochene Sprache ins Schriftliche umzuwandeln oder umgekehrt Geschriebenes zu lesen. Jungen sind etwa dreimal häufiger von einer Lese-Rechtschreibschwäche betroffen als Mädchen. Aber nicht jedes Kind, bei dem das Lernen, Schreiben und Lesen in der Schule nicht reibungslos verläuft, hat Legasthenie.
Legasthenie-Definition – eindeutige und anhaltende Schwächen
Die Legasthenie ist nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO eine Erkrankung. Es müssen anhaltende und eindeutige Schwächen im Bereich der Lese- und Rechtschreibung vorliegen, die sich nicht mit dem Entwicklungsalter, unterdurchschnittlicher Intelligenz, fehlender Beschulung, psychischen Erkrankungen oder Hirnschädigungen erklären lassen, so die Definition.
Symptome der Legasthenie frühzeitig erkennen
Ab einem Alter von etwa fünf Jahren beginnen Kinder, sich für geschriebene Wörter zu interessieren und Buchstaben zu malen – oftmals spiegelverkehrt, was ganz natürlich ist. Dieses Ausprobieren ist Teil des kindlichen Spieltriebs und gehört zum Erwerb der Schriftsprache. Im Vorschulunterricht im Kindergarten fallen Kinder mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche oft zum ersten Mal auf, wenn sie einzelne Buchstaben auch nach mehreren Tagen oder Wochen nicht benennen können oder beim Aufsagen des Alphabets in gängigen Kinderliedern passen müssen.
Buchstabenwirrwarr und Wortsalat
Mit der Einschulung und dem Beginn des Schreib- und Leseunterrichts zeigen diese Kinder vermehrt Probleme beim Lesen und Schreiben. In Schrift und Sprache ersetzen sie einzelne Buchstaben oder Silben durch andere Buchstabenkombinationen oder fügen dem Wort fälschlicherweise solche hinzu. Auch lassen sie oft einzelne Buchstaben weg. So schreiben sie zum Beispiel "Has" statt "Haus". Beim Lesen brauchen sie länger, bis sie die ersten Worte eines Satzes überhaupt aussprechen können. Anschließend lesen sie nur sehr langsam und stockend weiter und vertauschen die Reihenfolge einzelner Wörter innerhalb eines Satzes.
Das gerade Gelesene ist den Kindern fremd: An die Inhalte des selbst vorgelesenen Textes können sie sich nicht erinnern, verstehen dementsprechend auch die Bedeutung nicht und versuchen Fragen zum Text aus ihrem Allgemeinwissen heraus zu beantworten. Der Textinhalt selbst ist für Legastheniker ein "Buch mit sieben Siegeln", auch Nachfragen des Lehrers helfen ihnen nicht.
Alle Kinder machen anfangs Schreib- und Lesefehler
Lesen und Schreiben ist ein komplizierter Prozess, den alle Kinder erst mühsam erlernen müssen. Schrift und Sprache sind für sie ein komplexer Code, den es nach und nach zu enträtseln gilt. Dass Kinder dabei Fehler machen, ist ganz normal. Allerdings sind die Probleme individuell unterschiedlich stark ausgeprägt und treten auch nicht in der gleichen Häufigkeit auf.
Bei den meisten Kindern werden die Fehler beim Lesen und Schreiben im Lauf des Lernprozesses schnell weniger und verschwinden schließlich ganz. Anders bei Legasthenikern: Die Fehler häufen sich nicht nur, sondern sie machen auch immer wieder neue Fehler, wenn sie die gleiche Aufgabe zu lösen versuchen. Ein Beispiel: Sie schreiben das gleiche Wort bei jedem Versuch anders falsch oder lesen es falsch vor.
Legasthenie hat nicht nur eine Ursache
Wie eine Legasthenie letztendlich entsteht, ist Forschern noch immer unklar. In den vergangenen Jahrzehnten kamen sie vielen möglichen Auslösern auf die Spur. Einer allein kann aber nicht für die Lese-Rechtschreibschwäche verantwortlich sein. Vielmehr scheint eine Kombination aus mehreren Faktoren die Entwicklung der Legasthenie zu begünstigen.
Genetische Ursachen einer Legasthenie
Für die Legasthenie spielt vermutlich eine erbliche Veranlagung eine Rolle. So wissen Forscher, dass ein Kind ein erhöhtes Risiko für eine Lese-Rechtschreibstörung hat, wenn ein Elternteil Legastheniker ist. Auch Untersuchungen mit eineiigen Zwillingen erhärten den Verdacht, dass die Gene beteiligt sind. Hat ein eineiiger Zwilling eine LRS, entwickelt der andere Zwilling mit einer Wahrscheinlichkeit von fast 70 Prozent ebenfalls Legasthenie. Bei zweieiigen Zwillingen, die kein völlig identisches Erbgut haben, liegt dieses Risiko nur bei knapp 40 Prozent. Forscher vermuten, dass die Veranlagung für die Entwicklungsstörung auf verschiedenen Chromosomen – den Trägern des Erbguts – lokalisiert ist.
Das alleinige Vorhandensein einer Veranlagung bedeutet aber nicht, dass ein Kind zwangsläufig eine Legasthenie ausbildet. Zwar ist das Risiko für Legasthenie erhöht, aber es müssen noch einige weitere Faktoren hinzukommen. Die Legasthenie ist also kein Schicksal, das Kinder mit einem genetischen Risiko automatisch trifft.
Weitere mögliche Gründe
Beginnt eine Legasthenie bereits im Kopf von Babys? Darauf deuten Untersuchungen von Neugeborenen hin, bei denen ein Elternteil Legastheniker ist. Messungen der Hirnströme zeigten, dass diese Babys Sprache und Geräusche anders verarbeiten als Kinder, die Eltern ohne LRS haben. Diese Abweichungen in den Wellenmustern der Hirnströme fanden sich sonst nur bei Kindern oder Erwachsenen, die schon die Diagnose Legasthenie erhalten hatten. Die Forscher nehmen an, dass verschiedene Hirnareale nicht ausreichend vernetzt sind und nicht synchron zusammenarbeiten.
Sehstörungen und Hörprobleme
Manche Kinder leiden unter Erkrankungen der Augen, etwa einer Fehlsichtigkeit, oder der Ohren, zum Beispiel einer Schwerhörigkeit. Sie entwickeln zwar nicht automatisch eine Legasthenie, haben es aber deutlich schwerer, Schreiben und Lesen zu erlernen.
Kinder mit Sehstörungen bewegen ihre Augen oft sprunghaft (Sakkaden), etwa wenn sie Wörter innerhalb eines Textverlaufs oder Zahlenpaare bei Rechenaufgaben fixieren. Diese sprunghaften Augenbewegungen führen dazu, dass die Kinder die Buchstaben und Ziffern nicht richtig erkennen oder im Raster verrutschen und somit falsche Ergebnisse erzeugen. Kinder mit Seh- oder Hörproblemen können ähnliche Symptome wie bei einer Legasthenie oder Rechenschwäche (Dyskalkulie) zeigen.
Verzögerung der Sprachentwicklung
Ein anderthalbjähriges Kind verfügt im Schnitt über einen Wortschatz von 50 Wörtern. Allerdings gibt es auch sprachliche Spätzünder, die sich mehr mit ihren Händen und Füßen und ihren Gefühlen ausdrücken als über die Sprache. Doch bis zum vierten Geburtstag holen sie in der Regel wieder auf. Bleibt der Wortschatz über dieses Alter hinaus zu gering, ist das etwa bei der Hälfte dieser Kinder bereits ein Zeichen dafür, dass sich später eine Legasthenie entwickeln könnte – das zeigt die Statistik.
Störungen der Sprachverarbeitung (phonologische Informationsverarbeitung)
Bei der Sprachverarbeitung stehen nicht die Inhalte der Sätze im Vordergrund, sondern der Umgang mit Worten. Es geht also um ein echtes Wortverständnis des Kindes: Was verrät die Vorsilbe oder Endung? Kann ich dieses Wort trennen? Kann ich Reime bilden? Besitzt ein Kind im Einschulungsalter diese Fähigkeiten nicht, gilt dies als aussagekräftiger Hinweis für eine Legasthenie.
Soziale Faktoren
Ein Vorurteil ist, dass Legastheniker immer aus sozial schwachen Familien kommen – dies ist keineswegs der Fall! Es gilt nicht als sicherer Auslöser einer Lese-Rechtschreibschwäche, wenn Kinder leicht konsumierbare Medien wie Fernsehen oder Videos im Internet bevorzugen statt Bücher zu lesen, die deutlich mehr Mühe machen. Fachleute interpretieren die Vorliebe eines Kindes für Bewegtbild und Ton aber als Symptom der Legasthenie. Denn die Informationen im TV und Internet sind für Menschen mit Legasthenie viel leichter zugänglich als Geschriebenes in Form eines Buchs oder einer Zeitschrift. Wissenschaftler untersuchen derzeit, ob es einen Zusammenhang zwischen einem überdurchschnittlichen Fernsehkonsum und Legasthenie gibt.
Test auf Legasthenie – so gehen Ärzte vor
Nicht immer liegt eine Legasthenie vor, wenn ein Kind beim Lesen oder Schreiben Probleme hat. Auch körperliche oder psychische Faktoren können vorübergehend die Symptome einer Legasthenie auslösen. Ärzte müssen diese deshalb zunächst ausschließen. So untersucht zum Beispiel ein Hals-Nasen-Ohrenarzt das Hörvermögen und die Stimmbildung, während sich ein Augenarzt vom Sehvermögen eines Kindes überzeugt.
Das will der Arzt von den Eltern wissen
Wichtig ist auch ein Gespräch zwischen dem Arzt und den Eltern. Sie können Antworten auf Fragen geben, die vielleicht mit den kindlichen Problemen beim Lesen und Schreiben in Zusammenhang stehen, zum Beispiel:
- Gibt es Situationen, die Ihr Kind emotional belasten?
- Hat Ihr Kind Stress in der Schule, zum Beispiel mit Lehrern oder Mitschülern? Wird es zum Beispiel gemobbt?
- Gibt es Spannungen in der Familie, die Ihr Kind bedrücken, zum Beispiel mit den Geschwistern oder Ihnen als Eltern?
Seelischer Druck in der Familie oder Schule kann sich bei manchen Kindern in einer vorübergehenden Lese- und Rechtschreibschwäche äußeren.
Leistungsfähigkeit und Test des IQ
Scheiden körperliche oder psychische Faktoren als Ursachen für die Legasthenie aus, werden standardisierte Bewertungsverfahren eingesetzt, die den tatsächlichen Leistungsstand des Kindes ermitteln. Seit 2015 wird zusätzlich zu diesem Testverfahren ein Intelligenztest empfohlen: Nur wenn Kinder im IQ-Test einen durchschnittlichen oder sogar erhöhten Wert erzielen, sie aber gleichzeitig Lese- und Schreibprobleme haben, gilt eine echte Lese- und Rechtschreibschwäche als sichere Diagnose. Damit lässt sich ausschließen, dass die Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben auf eine unterdurchschnittliche Intelligenz zurückzuführen sind.
Kinder mit Anzeichen für Legasthenie früh und richtig fördern!
Wichtig ist es, dass Eltern und Lehrer ihre Aufmerksamkeit schärfen für erste Anzeichen einer Lese- und Rechtschreibstörung bei Kindern. Wenn die Legasthenie rechtzeitig entdeckt wird, lässt sie sich umso besser behandeln. Auch die Kinder profitieren davon, wenn sich die Lernsituation deutlich entspannt und sie nicht dauernd das Gefühl haben, nicht so gut mitzukommen wie andere Kinder in ihrem Alter.
Kinder schon vor der Einschulung fördern
Es gibt heute verschiedene Maßnahmen, um jene Kinder frühzeitig zu erkennen, die ein Risiko für Legasthenie haben. Sie setzen schon im Kindergartenjahr vor der Einschulung an. In einigen Bundesländern ist dieses Kindergartenjahr auch aus diesem Grund verpflichtend. Zudem ist der Besuch kostenlos. So erhöht sich die Chance, dass Erzieher Kinder mit Entwicklungsverzögerungen schon vor der Einschulung erkennen und sie gezielt fördern.
Wird die Legasthenie noch vor dem Schulbeginn und dem Sprachunterricht entdeckt, tun sich die Kinder viel leichter, den Einstieg in das Erlernen der Schriftsprache zu finden. Auch bleiben ihnen Frustrationen im Unterricht erspart. Die Folgen solcher negativen Erlebnisse können Angst vor dem eigenen Versagen, vor schlechten Schulnoten und ganz allgemein vor der Schule sein.
Ängste mitbehandeln!
Kinder, die unter solchen seelischen Nöten wegen ihrer Legasthenie leiden, sollten von einem erfahrenen Therapeuten behandelt werden. Er kann einiges tun, um das kindliche Selbstbewusstsein zu stärken und ihm das zu Gefühl nehmen, dass seine Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben etwas mit Dummheit und mangelndem IQ zu tun haben. Denn dieser Zusammenhang ist nachgewiesenermaßen falsch. Geschulte Therapeuten arbeiten mit Konzepten zur Lernerleichterung und Selbstkorrektur. Außerdem vermitteln sie dem Kind Techniken, wie es seine Konzentrationsfähigkeit steigern, mit Frustrationen besser umgehen und sich in Belastungssituationen entspannen kann.
Legastheniker sind keine Analphabeten
Legasthenie bedeutet nicht, dass ein Mensch weder lesen noch schreiben kann. Er tut sich einfach nur schwer damit. In Deutschland gibt es auch Menschen, die nie in ihrem Leben das Lesen oder Schreiben gelernt haben oder nur sehr geringe Kenntnisse darüber besitzen. Die Zahl der "richtigen" Analphabeten wird auf mehr als zwei Millionen geschätzt. Daneben leben laut Schätzungen hierzulande rund 7,5 Millionen funktionelle Analphabeten. Sie können nicht flüssig lesen und schreiben. Mehr als 60 Prozent davon sind Männer. Sie haben erhebliche Probleme in ihrem Alltag und Beruf, weil sie zum Beispiel einfache Bedienungsanleitungen nicht verstehen oder die Abfahrtszeiten von Bussen nicht entziffern können. Für alle gibt es heute entsprechende Lernangebote, zum Beispiel an Volkshochschulen.
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