Von Eiweiß bis B12: Braucht der Mensch Fleisch?
„Aber da fehlt dir doch bestimmt irgendwas“: Dieses Argument begegnet Menschen, die sich vegetarisch oder vegan ernähren, immer wieder. Aber braucht der Mensch wirklich Fleisch, um sich gesund zu ernähren und keinen Mangel zu bekommen?
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- © Getty Iamges/Vittaya Sinlapasart/EyeEm
Vitamin D, Jod, Kalzium, Eiweiß, Eisen oder Vitamin B12: Die Liste der Nährstoffe, an denen es Vegetarier*innen und Veganer*innen mangeln soll, ist lang. Doch halten die Behauptungen einer kritischen Prüfung stand – oder dienen sie vor allem Fleischessenden mit Gewissensbissen als Ausflüchte? Gerade Menschen, die sich erst seit kurzem vegetarisch oder vegan ernähren, können Halbwahrheiten rund um den Fleischverzicht verunsichern. Wir haben beim Ernährungsexperten Dr. Roger Eisen nachgefragt, was dran ist am Mangel-Mythos.
Im Überblick:
- Soja und Hülsenfrüchte statt Fleisch
- Pflanzliches Eiweiß
- Kalzium
- Eisen
- Vitamin B12
- Vitamin D
- Omega-3-Fettsäuren
- Jod
- Fazit
Soja und Hülsenfrüchte statt Fleisch
Der Mediziner gibt Entwarnung auf breiter Flur. „Viele Mythen rund um die vegetarische und vegane Ernährung sind mittlerweile durch Studien widerlegt. So fehlt es mit einer ausgewogenen und gut durchdachten vegetarischen Ernährung mitsamt Soja und Hülsenfrüchten normalerweise an nichts“, sagt der Lifeline-Experte. Wichtig sei, so Eisen, sich insgesamt gesund zu ernähren und ungesunde vegetarische Produkte wie zu viel Süßes zu meiden – also kein sogenannter Puddingvegetarier zu werden. Denn bei einer einseitigen vegetarischen Ernährung droht tatsächlich ein Mangel an Omega-3-Fettsäuren, Eisen, Jod, Kalzium, Vitamin D sowie B12.
Pflanzliches Eiweiß in Hülsenfrüchten, Nüssen und Gemüse
Protein (Eiweiß), das in den Köpfen vieler Menschen immer noch ein Alleinstellungsmerkmal von Fleisch wie Steak und Hähnchenflügeln ist, findet sich in mehr als ausreichender Menge in pflanzlicher Nahrung – und steckt dabei längst nicht nur in Tofu und anderen Soja-Produkten. Hülsenfrüchte sowie Pilze und verschiedenste Gemüsesorten sind überaus eiweißreich. „Die ausreichende Proteinversorgung ist mit ausgewogener, vegetarischer Lebensweise überhaupt kein Problem“, erklärt Lifeline-Experte Roger Eisen – „es gibt Bodybuilder, die sich rein pflanzlich ernähren.“ Wobei eine ausgewogene Ernährung natürlich leichter falle und weniger Wissen erfordere, wenn zusätzlich Milchprodukte und Eier auf dem Speiseplan stehen.
Kalzium in Gemüse
Wer sich vegan und ovo-vegetarisch ernährt, verzichtet nicht nur auf Fleisch, sondern auch auf Käse, Joghurt, Sahne und alles andere, was aus Milch gemacht wird. Dennoch droht keineswegs ein Kalziummangel, wenn die Ernährung alles in allem überlegt ist. „Ovo-Lakto-Vegetarier*innen sind oft sogar besser mit Kalzium versorgt als Fleischesser“, berichtet Eisen. Wer sich hingegen ausschließlich vegan ernährt, leide häufiger an Kalziummangel und setzte sich in der Folge einem erhöhten Risiko für Osteoporose (Knochenschwund) aus.
Der Rat des Mediziners an alle, die sich vegan ernähren möchten: „Auf gute Kalziumquellen wie Brokkoli, Chinakohl und Grünkohl achten und gegebenenfalls die Blutwerte kontrollieren lassen.“ Gute Alternativen zu Milchprodukten seien außerdem Sojamilch sowie Tofu.
Eisen steckt nicht nur in Fleisch
Während sich eine Unterversorgung mit Eiweiß und Kalzium also relativ einfach umgehen lässt, wird es bei dem für die Blutbildung essenziellen Spurenelement Eisen schon etwas kniffliger. „Eisen aus pflanzlichen Nahrungsmitteln wird vom Körper schlechter aufgenommen als aus tierischen“, erklärt der Experte – „allerdings zeigen Vegetarier*innen keine gehäufte Neigung zu Eisenmangelanämien.“ Blutkontrollen seien trotzdem sinnvoll, um der Blutarmut vorzubeugen.
Eisen steckt neben Fleisch vor allem in Hirse und dem Pseudogetreide Quinoa, in Nüssen, Kernen sowie grünem Blattgemüse. Frauen verlieren während ihrer Monatsblutung regelmäßig Eisen und sind dementsprechend stärker mangelgefährdet.
Vitamin B12 über Tabletten
Das essenzielle B12- Mangel oder Cobalamin ist weder tierischen noch pflanzlichen Ursprungs. Die Vorstufe der biologisch aktiven Variante, das Coenzyms B12, wird ausschließlich von Mikroorganismen produziert, die im Verdauungstrakt von Tieren oder auf ungewaschenem Gemüse leben. Allerdings findet die Synthese erst im tierischen Dickdarm statt. Aufgenommen wird der Stoff aber im Ileum, dem letzten Dünndarm-Abschnitt – das selbst produzierte B12 nützt dem Menschen also herzlich wenig. Stattdessen steckt es gut verwertbar in Leber, Muskelfleisch, Eiern und Milchprodukten.
„Das Hauptproblem bei veganer und teils auch bei ovo-lacto-vegetarischer Ernährung bleibt letztendlich der B12- Mangel“, zieht Eisen Bilanz – und empfiehlt allen Pflanzenessenden eine regelmäßige Kontrolle des Blutspiegels, um Defizite zu erkennen und auszugleichen. In geringen Mengen findet sich das Vitamin zwar in vergorenen Pflanzenprodukten wie Sauerkraut – jedoch in einer Form, die der Körper ebenfalls nicht verwerten kann.
Benötigt wird die Verbindung für die DNA-Bildung. Somit ist das Vitamin an der Zellteilung und dem reibungslosen Funktionieren des Nervensystems beteiligt. Besteht ein Mangel an dem lebenswichtigen Stoff, sollten Vegetarier*innen und Veganer*innen ihn mit Vitamin-B12-Tabletten kompensieren.
Vitamin D: Pilze und Sonne für die Knochen
An Vitamin D, das unter Einfluss von Sonnenstrahlen in der Haut entsteht oder zum Beispiel in Champignons steckt, mangelt es vor allem in den Wintermonaten vielen Deutschen. „Das gilt selbst für den Fleisch essenden Teil der Bevölkerung“, erklärt der Mediziner. Er hält eine Substitution mit einem Vitamin-D-Präparat in den Monaten Oktober bis März deshalb generell für sinnvoll.
Omega-3-Fettsäuren: Walnüsse und Leinöl sind Spitzenreiter
Die viel gepriesenen Omega-3-Fettsäuren stecken vor allem in fettem Seefisch wie Lachs. Was aber weitaus weniger Menschen wissen: Die Öle aus Leinsamen, Raps, Walnüssen, Chia und Perilla enthalten noch weitaus mehr davon. Dennoch können zumindest Leinsamen den Omega-3-Lieferanten aus dem Meer nicht vollkommen ersetzen, wie eine Studie ergab.
Wer einen Mangel fürchtet, kann seine Omega-3-Fettsäuren desweiteren aus Tofu, Soja und grünem Gemüse beziehen. Bunte Vielfalt auf dem Teller schützt am besten vor dem Fehlen der gesunden Fettsäuren.
Jod: Sushi und jodiertes Speisesalz
Das Spurenelement Jod braucht der menschliche Körper vor allem, um die Schilddrüsenhormone T3 und T4 herzustellen. Bekommt er nicht genug, bildet sich durch die Vergrößerung des Organs zunächst ein Kropf. In schweren Fällen kann Jodmangel sogar die weit verbreitete Schilddrüsenunterfunktion verursachen. Das essenzielle Element enthalten allerdings nur wenige Lebensmittel, etwa Seefisch und Meeresalgen, die Sushi-Röllchen umhüllen. Falls durch die tägliche Ernährung ein Jodmangel bestehen sollte, lasse sich dieser durch jodhaltiges Salz oder notfalls mit speziellen Präparaten ausgleichen, erklärt Eisen.
„Wer das gesamte Angebot an vegetarischen Lebensmitteln ausschöpft – also Gemüse, Obst, Hülsenfrüchte, Getreide, Quinoa, Amaranth, Soja, Nüsse und Kerne isst – dem droht keine Gefahr“, hält Ernährungsexperte Eisen fest. Vegetarier*innen hätten es noch ein klein bisschen leichter, ihren Körper mit allem Nötigen zu versorgen. Alle, die fleischlos leben, sollten aber „Zucker und schlechte Fette meiden“, rät er: „Das sind Nährstoffräuber!“
Fazit: Ohne Fleisch geht es auch
Zahlreiche Studien zum Thema untermauern die gesundheitlichen Vorzüge des Fleischverzichts. Je mehr (rotes) Fleisch und Wurst jemand verzehrt, desto größer ist etwa sein Risiko, an verschiedenen Krebsarten zu erkranken. Vegetarier*innen leiden zudem seltener an Zivilisationskrankheiten des Herz-Kreislauf-Systems. Allerdings liegen die klaren Ergebnisse zum Teil daran, dass viele Pflanzenessende grundsätzlich gesünder leben, indem sie etwa auch seltener rauchen und sich mehr bewegen.
Außerdem liegt die Vermutung nahe, dass sich Menschen, die sich vegan oder vegetarisch ernähren, mehr Gedanken über ihre Ernährungsweise machen, größeres Wissen dazu aneignen und allein deshalb gesünder und reflektierter essen. Übrigens haben auch Menschen, die ab und zu Fleisch oder Fisch auf den Teller legen, einen klaren gesundheitlichen Vorteil gegenüber den Täglich-Fleisch-Essenden. Wer Fleisch isst, dem empfehlen Ernährungswissenschaftler*innen: Nicht täglich Fleisch und nicht mehr als 300 bis 600 Gramm Fleisch und Wurst pro Woche zu verzehren.
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